“Daher soll es heute auch nicht darum, sondern über den anderen, bisher viel zu stiefmütterlich behandelten Teil der LegalTech-Bewegung gehen: A2J oder Access to Justice, auf Deutsch: Zugang zum Recht.”

Achtung: dieser Beitrag enthält nicht nur meine persönliche Meinung, sondern listet auch einzelne Unternehmen/Organisationen auf, die ich persönlich toll finde. Es handelt sich daher um Werbung, diese ist jedoch unbezahlt. Außerdem ist dieser Artikel meine öffentliche Reaktion auf die Diskussionen unter diversen Postings in den sozialen Medien. Trotzdem hoffe ich, dass sich niemand persönlich beleidigt fühlt.

Viele können es nicht mehr hören, das Wort ist 2019 definitiv ausgereizt worden und eigentlich weiß niemand mehr richtig, worüber wir diskutieren. Legal Tech. Es handelt sich um die Prozesse der Digitalisierung unter dem Deckmantel des Begriffs und je mehr man sich damit beschäftigt, umso mehr wird einem klar welche Leichen im Garten vergraben wurden, welche Prozesse man über die Jahre einfach mitgenommen hat, ohne diese jemals zu hinterfragen. Und dennoch geht man zahlreiche neue Prozesse an, die zu teuer und zu langsam sind, gleichwohl aber meistens falsch (mit zu wenig Budget) und schlecht (mit nicht hierfür spezialisiertem Person oder mit dem entsprechenden Mindset) angegangen werden. Daher soll es heute auch nicht darum, sondern über den anderen, bisher viel zu stiefmütterlich behandelten Teil der LegalTech-Bewegung, außerhalb des B2B-Bereichs gehen: A2J oder Access to Justice, auf Deutsch: Zugang zum Recht.

Wir leben doch in Demokratie und Harmonie

Doch seien wir mal ehrlich: wir haben in Deutschland Gerichte, der Rechtsweg ist zumindest theoretisch für jeden eröffnet und wir haben zwar zu wenige Staatsanwälte und Richter, Prozesse dauern viel zu lange und sind zu teuer. Doch die Frage nach dem Geld lösen Rechtschutzversicherungen und die Prozesskostenhilfe und die Zeit: nun ja, auf irgend etwas muss man immer warten. Wir haben es in Deutschland also, nach der Theorie, nicht schlecht. Wir haben im Übrigen Verbraucherschutz, Mindestlohn, Prozesskostenhilfe und gesetzliche Krankenkassen. Und die Anwaltschaft sollten wir auch nicht vergessen. Schließlich stehen die Angehörigen dieses Berufszweiges Montag bis Freitag in der früh nur deswegen auf, um sich für unsere Rechte einzusetzen. Also über echtes Access to Justice im engeren Sinne brauchen wir gar nicht zu reden.
So zumindest die Meinung vieler.

Irgendwo verständlich, denn wenn man Tag ein und aus nur Nachbarschaftsstreitigkeiten über heruntergefallenen Äpfel und die Größe des Kartenzwerges (Achtung bewusst provokativ) beraten darf, stellt sich zu Recht die Frage, wer in Deutschland sein Recht nicht bekommt. Zumindest wenn es sich hierbei um die einzigen Probleme handelt, die Nachbarn in ihrem Leben haben. Doch sobald man die Uni verlässt, über den Mindestlohn verdient und über 50 Stunden/Woche arbeitet, so dass man keine Zeit und Nerv mehr für die kleinen Probleme anderer hat, kann diese auch sehr einfach übersehen werden. Denn schließlich lebt man immer auch in seiner analogen Filterblase.

Raus aus der Filterblase

Doch was passiert eigentlich, wenn wir aus unseren Echokammern raustreten und unsere Welt innerhalb der deutschen Staatsgrenzen (die es trotz EU ja immer noch gibt) betrachten bzw den Menschen zuhören?
Wir haben juristisch relevante Sachverhalte, die für die Anwaltschaft nicht teuer genug sind, so dass es sich nicht lohnt, diese zu bearbeiten.
Wir haben juristisch relevante Sachverhalte, für die es zwar Rechtsnormen gibt und diese auch zum Teil vor Gericht verhandelt werden. Doch oftmals landen diese auf einem Stapel, werden geöffnet und landen auf dem Stapel der Bagatellen. Wen kümmert es schon?
Und zuletzt handelt sich dieser Artikel über das Recht in Deutschland, es geht also um geschriebenes Recht. Für viele zu unverständlich, nicht zugänglich und viel zu kompliziert.
Genau diese sind Fälle, bei denen Legal Tech und A2J in Deutschland in Frage kommt.

Beispiel Nr. 1

Ja, natürlich entscheidet das Angebot des LegalTech-Mammuts Flightright nicht über Leben und Tod oder über Freiheit oder Gefängnis. Doch wofür haben wir unsere Verbraucherrechte, wenn diese letztendlich leer laufen, weil niemand für deren Durchsetzung kämpft?

Beispiel Nr. 2

Warum sich eine Organisation wie HateAid 2019 gründen muss? Weil die Durchsetzung der Gemeinschaftsrichtlinien der sozialen Medien und das geltende Strafrecht weder von den Plattformbetreiber, noch von den Staatsanwaltschaften erfolgreich verfolgt (dazu der Bericht des RA Thomas Stadler) und durchgesetzt (dazu dieser Bericht) werden(hier müssen wir natürlich die einschlägigen Gesetzesänderungen und ihre Wirkung abwarten). So arbeiten die Mitarbeiter nicht nur an der Behebung der Folgeschäden und bieten eine Mental-Stabilisierende- und technische Erstberatung, sondern finanziert auch Prozesse. Die Organisation hilft uns allen und dem Gesetzgeber die geltenden Rechte vor dem Hintergrund des digitalen Hasses, Hetze und ihre Manifestation in der analogen Welt so gut zu verstehen, dass man in der Lage ist entsprechend darauf zu reagieren. Denn zwar stammt die Aussage der Kanzlerin, das Internet sei “Neuland für uns alle” aus dem Jahr 2013, doch die Gesetzeslage und die aktuelle Situation bzw. der aktuelle Ton in den sozialen Medien zeigt: wir haben das Internet und seine Regeln immer noch nicht verstanden. Insbesondere haben wir es vor allem nicht geschafft die gängigen Umgangsformen aus der analogen Welt auch in die digitale Welt zu übertragen.

Beispiel Nr. 3

Warum meinBafög.de der Kölner GründerInnen um Pascal Heinrichs so erfolgreich ist, dass die Gruppe direkt mit dasElterngeld.de ihr Portfolio erweitert? Weil in manchen Städten die Bearbeitungsprozesse auch mit vollständigen Unterlagen viel zu lange dauern, so dass die Wartezeit zum Teil unzumutbar wird.  Doch wer bereits die entsprechenden Anträge ausfüllen durfte weiß, dass es auch sehr schnell passieren kann, dass bestimmte Dokumente fehlen. Warum die Behörden nicht miteinander kommunizieren und die Unterlagen intern einfordern können (oder wollen) bleibt offen. Fakt ist aber, dass Studierende über ein Angebot, welches Sie ernsthaft unterstützt und Ihnen Hilfe anbietet, sehr glücklich sind, so dass diese diese die Unterstützung rechtzeitig oder überhaupt erhalten können. Als Studierende mit BaFÖG-Anspruch kann ich an der Stelle auch bestätigen: die Frage, ob man sein Geld rechtzeitig oder erst 2-3 Monate später bekommt kann über die Frage entscheiden, ob man in der Lage ist seine Wohnung rechtzeitig zu bezahlen, oder sich die nächsten 4 Wochen von Butter und Brot ernähren muss. Natürlich geht es nicht allen so. Aber es sollte niemandem so gehen, denn das Gesetz regelt ziemlich konkret wer auf was hoffen kann. Außerdem gilt insbesondere hier zu bedenken: Die Gründung ist aus der eigenen Notlage beziehungsweise dem eigenen Bedürfnis der ehemaligen Studierenden entstanden und findet seitdem zahlreiche dankbare KundInnen.

Beispiel Nr. 4

Warum Raketenstart jetzt schon einen Raketenstart hinlegt? Weil Gründerin Madeleine Heuts vielleicht keine Lust mehr hat bei der Kammer in der Schlange ihren Vormittag oder online auf den nächsten Termin wartend zu verbringen und darauf zu hoffen, dass sie jemanden trifft, der/die überhaupt versteht was sie machen möchte. Und warum sie den Begriff “Legal Fuckups” für sich entdeckt hatte? Vermutlich, weil es sich hierbei um Themen handelt, um die sich ein GründerIn sehr gerne Gedanken macht zwischen Businessplan, Recrutierung, Werbung und und und und…(Ironie Off). Hier zeigt sich insbesondere: wenn GründerInnen sich gut beraten, aufgehoben und rechtlich auf der sicheren Seite fühlen würden, bräuchte es das Angebot der jungen Gründerin nicht. Der Vorwurf, Deutschland sei kein gründerfreundliches Land, könnte möglicherweise hier seinen Ursprung haben.

Wir brauchen diese Organisationen, die auf akute Probleme, Lücken und Fehler  hinweisen und diese so lange beheben, flicken und pflegen können, bis der Gesetzgeber seiner Aufgabe nachkommt oder sich die Probleme von alleine erledigen. Und ja, Gründerinnen und Gründer waren schon immer einen Schritt voraus und sind vielleicht zu einem Großteil auch gescheitert. Doch seien wir uns ehrlich: im Endeffekt regelt der Markt sich selbst: ganz klassisch Angebot und Nachfrage.
Wenn also jemand behauptet, dass wir in Deutschland kein echtes Zugang zum Recht – Problem hätten, darf gerne erklären warum viele gerade dieser LegalTech-Gründungen erfolgreich sind. Ich empfehle hier die Augen zu öffnen und den alten Staub auf den Treppenstufen des Elfenbeinturmes zu kehren, indem man diese nach unten betritt und sich die Welt so anschaut wie sie ist. Denn sie ist nicht perfekt und auch wenn sie es wäre, es kann immer verbessert werden. Und sollten wir tatsächlich kein A2J-Problem haben, wenn also all die Gründungen und Organisationen bald ihre Türe und Tore schließen können, können sich die etablierten Unternehmen, KMUs und Kanzleien über zahlreiche neue, innovativ denkende Mitarbeiter freuen. Win-Win. Doch dann lasst diese bitte ihre Arbeit machen.

Quellen und weitere Hinweise:

Gründer.wiwo.de

Definition Access to Justice – United Nations

Matthias Kötter- Besserer Zugang zum Recht (Access to Justice) durch staatliche Anerkennung informeller Justizsysteme?

Penal Reform International – Access to Justice in sub-Saharan Africa  (2000)

Jan Skudlarek- Der Aufstieg des Mittelfingers

Julia Ebner- Radikalisierungsmaschinen: Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren 

Süddeutsche Zeitung – Richtermangel (19.01.2020)